8 X Gegen das Vergessen – gegen die Angst

Unsere Lesereihe im April 2024 hinterließ tiefe Eindrücke

Das übergreifende Thema aller vier Abende mag allgemein klingen, sitzt trotzdem aktuell wohl allen drängender als sonst im Nacken, aus gleich mehreren Gründen. Das war bereits in den Lese- und Diskussionsbeiträgen des ersten Abends zu spüren und setzte sich auch an den drei weiteren Abenden fort. Der Autorenkreis breitete auf beeindruckende Weise die vielfältige Auseinandersetzung seiner Aktiven mit nicht nur deutscher Vergangeheit und Gegenwart vor dem zahlreich erschienenen Publikum aus.


22. April. Michael G. Fritz, Karsten Dümmel

Autorenkreis-Vorsitzender Jörg Sader moderierte die Auftaktlesung und gab mit einer kurzen Einführung in die Entstehung und Geschichte des Autorenkreises den Startschuss für unsere diesjährige Lesereihe. Er übergab an Leser Nr. 1, der aus Leipzig angereist war, sein Nachfolger am Tisch aus der Region Saar/Lothringen. Das Publikum suchte das Gespräch besonders in zahlreichen kleineren Kreisen nach der Lesung – wozu es ausreichend Gelegenheit gab.

Michael G. Fritz, Karsten Dümmel (alle Fotos mit freundlicher Erlaubnis von Anette Wörner)

„Meinen Apfelstrudel müssen Sie unbedingt probieren“ könnte ein putzig-unterhaltsames Bändchen über Alltagsbegegnungen mit Fremden sein. Wäre es nicht von Michael G. Fritz geschrieben und ginge es darin nicht um Begegnungen des Autors mit vollkommen Fremden – in Israel. „Angst“ und „Vergessen“, diese beiden Worte klingen dort z.B. nicht so, wie sie woanders klingen mögen, und Gespräche (eines Deutschen) mit Unbekannten berühren bei aller Alltäglichkeit beinahe unvermeidbar heikle oder brisante Themen. Ob man sich über die Vergangenheit oder die Gegenwart unterhält, ob mit einem Beduinen in der Negev-Wüste, einer Deutschen Auswanderin am Toten Meer oder einer relaxten, jungen Barfrau auf einem Popmusik-Festival spielt dabei (fast) keine Rolle, auch wenn das Buch vor den aktuell stattfindenen kriegerischen Auseinandersetzungen in der Region entstanden ist.

Den berührenden Roman „Strohblumenzeit“ haben wir, so sein Autor Karsten Dümmel, einem französischen Journalisten zu verdanken. Der hatte ihn nämlich gefragt, wie es war, in der DDR zu leben, worauf Dümmel als Antwort nichts einfiel, was in ein paar Sätze passen würde, außer der Frage: „Wie den Bewohnern der Sonne den Mond erklären?“ Der Journalist habe sofort entgegnet, aus diesem Satz müsse Dümmel unbedingt ein Buch machen – voilá. Der Roman, erschienen 2014, erzählt auf drei Zeitebenen zwischen den Siebziger Jahren und der Gegenwart die Geschichte eines DDR-Dissidenten, der als junger Mann eine Beziehung mit einer französischen Studentin eingeht, und der gemeinsamen Tochter, die sich im vereinigten Deutschland auf die Suche nach ihrem Vater macht, den sie nie kennengelernt hat. Poetische Prosa über eine erst erstarrte, dann sehr bewegte Epoche. Demnächst erscheinen zwei Bücher von Dümmel: die Taschenbuchausgabe von „Grenzverletzung“ und erstmals das „Sarajevo Tagebuch“.


23. April. Michael Wäser, Jörg Sader

Die Moderation des Abends übernahm Helmut Ulrich, und er konnte den zahlreichen Zuschauern tatsächlich noch Unbekanntes über die beiden Autoren des Abends verraten. Wieder entspannen sich nach den eindrücklichen Texten die Diskussionen eher im lockeren Beisammensein danach als direkt im Anschluss an die Lesungen.

Michael Wäser nahm sich ausdrücklich des Veranstaltungsthemas an und sprach einleitend über die Zusammenhänge der öffentlichen/politischen Angst bzw. der Neigung, zu vergessen und demselben Phänomen im Privaten. Auszüge seines Romans „Familie Fisch macht Urlaub“ und seines Essays „Mein Werwolf“ brachten dem Publikum vor Augen, wie bereits ein Grundschulkind in der DDR der frühen Sechziger vom Staat/seiner Lehrerin bespitzelt wird und Angst um seine Familie haben muss, die Mutter von derselben Lehrerin befragt und unter Druck gesetzt wird. Der „Werwolf“ erweist sich bei ihm als Angstbild und Verschmelzung sowohl faschistisch-soldatischer Ideale und vornehmlich familärer Gewalt, die wiederum legitimiert („vergessen“), weitergegeben wird und in einem fatalen Kreislauf in die Gesellschaft/den Staat zurückwirkt. Sein Roman „Warum der stille Salvatore eine Rede hielt“ erscheint demnächst in Neuausgabe.

In Jörg Saders Roman „Das Flüstern der Augen“, der das Scheitern einer Liebe in der DDR der Hochphase von StaSi-Macht und gesellschaftlichem Phlegma erzählt, folgten die Zuschauer einer der Hauptfiguren, Tamara“ in eine West-Berliner Villa, in der ein konspiratives Treffen von Agenten der DDR-Staatssicherheit stattfindet, hörten die tastenden Phrasen der Linientreue, die das permanente gegenseitige Misstrauen nur wenig verschleiern, erlebten, wie Tamara, die eigentlich „nur“ Begleiterin und Geliebte eines Agenten ist, bei einem Autounfall im Westen um ein Haar auffliegt. Die kurze Erzählung „Der Gang durchs Tor“ machte intensiv spürbar, wie ein junger DDR – Bürger beim Anblick des Brandenburger Tores von der Sehnsucht überschwemmt wird, auf die westliche Seite zu gelangen, wie er es vor dem Mauerbau schon ganz alltäglich getan hat. Das Tor erscheint als Kristallisationspunkt nicht nur seiner, sondern immer wieder auch der deutschen Geschichte. Mehrere Neuerscheinungen von Sader sind in Vorbereitung.


24. April. Doris Liebermann, Helmut Ulrich

Das sehr umfangreiche schriftstellerische und journalistische Schaffen Doris Liebermanns konnte Moderator Jörg Sader nur anreißen, als er die erste Leserin des Abends vorstellte. Sowohl sie als auch der zweite Autor an diesem Mittwoch befassten sich mit zurückliegenden Ereignissen, die noch heute nachwirken. Stoff für Diskussionen und Schilderung eigener Erfahrungen aus dem Publikum – der Abend wurde – auf gute Weise – lang.

Doris Liebermann stellte ihr neuestes Buch „Gegen die Angst, seid nicht stille“ vor, in dem sie die Umstände um die Ausbürgerung der DDR-Musiker Gerulf Pannach, Christian Kunert und des Schriftstellers Jürgen Fuchs im Jahr 1977 darstellt. Viele tausend von ihr durchgearbeitete Seiten Observations- und Verhörprotokolle der Staatssicherheit dokumentieren das rigide Vorgehen gegen unbequeme Künstler nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann. Um die Band RENFT sammeln sich in jenen Tagen besonders engagierte Persönlichkeiten, auf und abseits der Bühne wird kritischer und freier als gewünscht gesprochen, geschrieben und gesungen. Zuerst werden die drei inhaftiert, was internationale Proteste und weitere Reaktionen der Opposition in der DDR hervorruft, dann schiebt man sie ab nach West-Berlin; weitere kritische Geister, unter ihnen Liebermann, folgen wenig später, unfreiwillig.

„Denn alles ist gut“ von Helmut Ulrich erzählt in virtuosem Sprachfluss von einem einzigen Tag im Leben des norddeutschen Sanitärunternehmers Anton Bürger in der BRD der neunziger Jahre. Es ist der erste (bisher veröffentlichte) von mehreren Romanen um den Kriegswaisen, der bei einer Pflegemutter aufgewachsen ist und unter den Traumata des Krieges auch als etablierter Unternehmer noch immer leidet – anschaulich in der wiederkehrenden Erscheinung des „Ruß-Engels“ in peinvollen halluzinatorischen Zusammenbrüchen. Der Roman fängt die Atmosphäre im kürzlich wiedervereinigten Deutschland ein, Geschäfte, die fließend übergehen in mafiöse Hehler- und Schieberei, Korruption, den permanenten Druck des lokalen Unternehmers und die Erinnerungen und Fantasien, die ihn auch in dem Deutschland, in dem endlich „alles gut“ werden soll, immer wieder heimsuchen.


26. April. Lea Rosh, Grit Poppe

Was Moderator Helmut Ulrich an diesem vierten und abschließenden Abend vorstellte – die Lesungen von Lea Rosh und Grit Poppe – sollte zur bedrückendsten der vier Autorenkreis-Veranstaltungen dieses April werden. So hatten auch viele das Bedürfnis, gleich nach den Lesungen in großer Runde über das Gehörte zu sprechen, Fragen zu stellen, eigene Erlebnisse und Gedanken beizutragen.

Lea Rosh las aus ihrem Buch „Die Juden, das sind doch die anderen“ über die Initiative zur Errichtung des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas Episoden über ihre journalistische Arbeit: Ein deutsches Dorf, in dem christliche und jüdische Bewohner 300 Jahre lang friedlich zusammen (auf jeweils „ihrer“ Seite des Dorfes) gelebt haben, bis zur Machtergreifung der Nazis. Als die Deportationen beginnen, lassen Nachbarn ihre jüdischen Mitbewohner, Bekannten, Freunde, umstandslos fallen und reißen sich ihren Besitz unter den Nagel, versuchen nicht einmal, sie zu schützen. Rosh berichtet auch von Schiffsladungen voll Hausrat, Möbeln und anderem Besitz, der jüdischen Familien und Unternehmen geraubt und, öffentlich, versteigert wurde – „alle wussten fast alles“. Ein Euthanasie-Zentrum auf Schloss Grafeneck, wo Massenmorde verübt wurden, unter den Augen der Bevölkerung, die mit den Opfern oft selbst verwandt war. Die Beschäftigung mit dieser Vergangenheit in Deutschland – gegen das Vergessen – bleibt eine Aufgabe für den Staat, die Wissenschaft, die Bildung und alle, die hier leben.

Grit Poppe brachte ihr Buch „Die Weggesperrten“ mit, in dem sie zusammen mit ihrem Sohn Niklas, Historiker, die Praxis der Disziplinierung unbequemer, auffälliger, oppositioneller Kinder und Jugendlicher in Heimen und „Jugendwerkhöfen“ der DDR und Erziehungsheimen und anderen Anstalten im Dritten Reich, in Westdeutschland und weiteren Ländern untersucht. Folterpraktiken, Gehirnwäsche, Misshandlung, Sadismus gegen Kinder und Jugendliche als Maßnahme des sozialistischen Staates zur Umerziehung oder als Machtdemonstration der staatlichen, kirchlichen oder privaten Institutionen im Westen, Sklavenhandel mit „Verdingkindern“ in der Schweiz. Was einst „Erziehung“ genannt wurde oder, teils aus wirtschaftlicher Not, hingenommen wurde, schockiert heute, wirkt nach, in den Opfern, in der Gesellschaft. Poppe lässt auch Betroffene selbst zu Wort kommen, in Interviews und eigenen Berichten aus dem Buch erfuhren die Zuhörerinnen und Zuhörer erschütternde Erlebnisse von jungen Menschen, die sich nicht beugen, nur sie selbst sein wollten.

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